ATdS. Arbeitstagung der Skandinavistik
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AK 9: Literarische Parasiten

Hanna Eglinger (FAU Erlangen-Nürnberg), hanna.eglinger@fau.de
Patrick Ledderose (LMU München), patrick.ledderose@lrz.uni-muenchen.de

Ein Parasit, so lässt sich ein allgemeiner Konsens aus verschiedenen lexikalischen Definitionen formulieren, ist ein Organismus, der sich auf Kosten anderer ernährt. Das historische Wörterbuch der Biologie definiert Parasitismus als »eine (regelmäßige) Interaktion zwischen Organismen [...], aus der ein Interaktionspartner, der Parasit, einen Nutzen zieht, der andere aber einen Schaden davonträgt« (Toepfer 2011, 1). Diesem – meist negativ besetzten – biologischen Definitionsansatz steht der begriffsgeschichtliche Ursprung des menschlichen Parasiten in der griechischen Antike gegenüber. Πάρα-σίτος (»Mit-Esser«; para: bei, neben, sitos: Getreide, Ähre, Essen) leitet sich aus dem Griechischen her: »bei jemandem speisen/mitessen«. Die ‚Parasitoi‘ in einem antiken Verständnis waren keineswegs ungebetene Gäste, sondern »die Inhaber derjenigen Ehrenämter, die dafür sorgen mußten, daß die Speisen und Getränke, die den Göttern geopfert wurden, auch tatsächlich verschwanden« (Röttgers 1999, 99).
Seit diesem ursprünglich positiven bis wertneutralen Begriffsverständnis der Antike hat der Begriff des Parasiten zahlreiche Wandlungen und Metamorphosen durchlaufen und ist in verschiedene Wissenschaftsbereiche und Kontexte eingedrungen. In sozial-, literatur- und kulturwissenschaftlichen Zusammenhängen werden Parasiten heute vor allem als Irritationsfiguren aufgefasst: als Stör- und Schwellenfiguren, als Verursacher transformierender Abweichungen, die ein (wie auch immer geartetes: bio- bzw. ökologisches, soziales oder auch literarisches) System verändern.
In einem bewusst weit gefassten Verständnis des Parasitären möchte der Arbeitskreis Figuren des Parasiten und/oder parasitäre Prinzipien in literarischen Texten und anderen Kulturerzeugnissen (Bildern, Filmen, Theater, Comics etc.) in ihren verschiedenen Dimensionen untersuchen und dabei unterschiedliche Facetten des Parasitären in den Blick nehmen: z.B. konkrete Interrelationen zwischen Parasit und Wirt, intertextuelle und intermediale Abhängigkeits- und Austauschverhältnisse sowie komplexe parasitäre Dynamiken in und von Ökosystemen, die sich auch als Denk- und Strukturmodell für textuelle und filmische Verfahren formulieren lassen.
Mögliche Untersuchungsszenarien könnten sein:
- Konkrete literarische (filmische etc.) Parasiten bzw. Schwellenfiguren des Schmarotzers, des (ungebetenen) Gastes und des Fremden
- Parasitäre und partizipatorische Schreibverfahren und intertextuelle Auseinandersetzungen mit Autorschaft wie etwa durch Re-Lektüren, Remakes, Re-Arrangements, Re-Writing und Fanfiction
- ein ‚parasitologischer‘ Blick auf literatursoziologische Phänomene wie Mäzenatentum, Co- Autorschaft, Ghost-Writing
- Poetologische Prozessmodelle der Irritation, Infiltration, Infektion, der Schwächung oder Auflösung von innen heraus
- Soziale, ökonomische, ökologische und/oder politische Dynamiken des Parasitären - Parasiten in ökokritischer Fiktion (z.B. als Indikatoren ökosystemischer Krisen)
- Weitere Themenvorschläge zum Parasitismus sind ebenfalls herzlich willkommen

Literatur zur Einführung:
Cowart, David: Literary Symbiosis: The Reconfigured Text in Twentieth-Century Writing, Athens/London 1993.
Gullestad, Anders Marcussen: »Literature and the Parasite«, in: Deleuze Studies 5.3, 2011, S. 301–323.
Röttgers, Kurt (1999): »Michel Serres: Strukturen mit Götterboten«, in: Joseph Jurt (Hg.): Von Michel Serres bis Julia Kristeva, Freiburg i.Br., S. 87–111 (v.a. S. 99–105).
Serres, Michel: Der Parasit, Frankfurt a.M. 1981 (v.a. S. 11–30 und 292–294). Toepfer, Georg: »Parasitismus«, in: Ders.: Historisches Wörterbuch der Biologie. J.B. Metzler, Stuttgart 2011, S. 1–10.